20 Jahre »Kein Täter werden« – Rückblick auf die Jubiläumsveranstaltung
16. November 2025
Rückblick auf die Veranstaltung
Am 22. September 2025 feierte das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin das 20-jährige Jubiläum des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“. Die von Jerome Braun von der Deutschen Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel moderierte Veranstaltung versammelte zentrale Wegbegleiter, Unterstützer und Fachleute, die seit zwei Jahrzehnten zur Entwicklung eines weltweit einzigartigen Präventionsansatzes beigetragen haben.
Im Mittelpunkt stand jedoch eine Botschaft, die vor 20 Jahren revolutionär war und heute wichtiger denn je ist: Die sexuelle Präferenz mag ein Schicksal sein – Taten sind es nicht. Menschen mit pädophiler Neigung können ihre Fantasien nicht abstellen, aber sie können lernen, verantwortungsvoll damit umzugehen – und es gibt Hilfe. Über 20.000 Menschen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Mut gefunden, sich an das Netzwerk zu wenden. Die Jubiläumsveranstaltung würdigte nicht nur die wissenschaftliche und politische Pionierarbeit, sondern vor allem auch den Mut jener Menschen, die sich ihrer Verantwortung stellen und Hilfe suchen.
Politische Meilensteine und Weichenstellungen
Die Grußworte machten deutlich, wie sehr das Projekt von politischem Mut und fraktionsübergreifender Unterstützung profitiert hat. Brigitte Zypries, ehemalige Bundesministerin der Justiz, erinnerte an ihre Bundestagsrede vom 29. November 2007, in der sie für die Anschlussfinanzierung des damals noch experimentellen Projekts warb:
„Es ist besser, Taten zu verhindern, statt Opfern zu helfen“
– ein Argument, das alle Fraktionen überzeugte. Die provokante Werbekampagne „lieben sie kinder mehr, als ihnen lieb ist?“ habe ein gesellschaftliches Tabu durchbrochen und die zentrale Differenzierung zwischen Pädophilie als sexueller Präferenz und sexuellem Kindesmissbrauch als Verhaltensstörung öffentlich gemacht.
In ihrer Rede würdigte Zypries „mit aller Hochachtung auch den Männern, die sich dort melden und bereit sind, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen. Denn es ist keine einfache Entscheidung, zu solchen Neigungen zu stehen und zu sagen: Ich will etwas dagegen tun und mich behandeln lassen.“ Sie verwies auf die Entwicklung von einem Berliner Pilotprojekt zu einem Netzwerk mit 13 Standorten und über 20.000 Kontaktaufnahmen und betonte zugleich die gewachsenen Herausforderungen durch Digitalisierung und KI-generierte Missbrauchsdarstellungen.
Hermann Gröhe, ehemaliger Bundesminister für Gesundheit, zeigte mit bemerkenswerter Offenheit, wie wichtig es ist, sich Zeit für ein Umdenken zu nehmen. Er bekannte, dass ihn das Anliegen erst „beim zweiten Mal, bei der zweiten Lektüre eines ganz langen Interviews“ überzeugt habe: „Die erste Lektüre löste so etwas wie eine produktive Irritation in mir aus. Die Frage: Meine Güte, wenn der Blick in dieser Weise auf die Behandlungsbedürftigkeit und damit auch auf den Anspruch auf Behandlung gelenkt wird – lenkt das nicht vom Leid der Opfer und ihrer Angehörigen ab?“
Doch es sei gut, „dass wir uns manchmal die Zeit nehmen, nach einer solchen Provokation weiterzulesen, noch einmal zu lesen, genauer zu lesen.“ Dadurch wurde ihm der entscheidende Unterschied klar: „dass es etwas völlig anderes ist, einen potenziellen Täter verstehen zu wollen, als Verständnis für eine Tat zu haben. Und dass dieses Projekt darauf zielt, im Sinne des Kinderschutzes Kinder davor zu schützen, dass aus einer behandlungsbedürftigen Störung eine schreckliche Straftat wird.“
Diese Ehrlichkeit über das eigene Ringen mit dem Thema ist wichtig – sie zeigt, dass anfängliche Vorbehalte und Fragen legitim sind, aber dass es sich lohnt, tiefer zu schauen und zu verstehen. Gröhe ordnete das Projekt in die Präventionsgesetzgebung ein und hob hervor, wie es gelang, das Projekt 2016 durch § 65d SGB V als Modellvorhaben in die gesetzliche Krankenversicherung zu integrieren – eine Pionierleistung, die „dicke Bretter bohren“ mit den Krankenkassen erforderte, besonders weil die Anonymität im Spannungsverhältnis zur üblichen mitgliedschaftlichen Verankerung der Kassenleistungen stand.
Er verwies auf die hohe Therapieadhärenz und verkündete die gute Nachricht: Das Bundeskabinett hat im August 2025 bereits die Verlängerung bis Ende 2027 beschlossen – ein wichtiger Schritt zur dauerhaften Verstetigung. Angesichts der WHO-Zahlen (13,4 % der Mädchen und 5,7 % der Jungen in Europa werden Opfer sexueller Übergriffe) und der geschätzten Folgekosten von 11 Milliarden Euro im Jahr sei das Projekt mit 5 Millionen Euro jährlich „gut angelegtes Geld“.
Dr. Henrike Hartmann von der VolkswagenStiftung würdigte die Anschubfinanzierung von rund 700.000 Euro im Jahr 2005 als Beispiel für risikobereite, grenzüberschreitende und strukturbildende Förderung. Das Projekt habe gezeigt, dass private gemeinnützige Förderer Räume in gesellschaftlich sensiblen Feldern öffnen können. Sie betonte, dass die VolkswagenStiftung auch aktuell das Projekt „Anonym Prevent“ fördert, bei dem gemeinsam mit der Universität Magdeburg und der TU Berlin KI-basierte Anonymisierungstechniken entwickelt werden, um die Therapieakzeptanz weiter zu erhöhen.
Wissenschaftliche Grundlagen und therapeutische Entwicklung
Prof. Dr. Dr. Klaus M. Beier führte in seinem Hauptvortrag durch die vier Phasen der Projektgeschichte: Die Anfangsfinanzierung (2005-2008), die Anschlussfinanzierung und Netzwerkgründung (2008-2018), die Integration ins Gesundheitssystem (2018-2025) und die nun anstehende Verstetigung. Er legte die wissenschaftlichen Grundlagen dar, die das Projekt ermöglicht haben: die Unterscheidung zwischen Präferenz- und Nicht-Präferenztätern, das biopsychosoziale Konzept menschlicher Sexualität („Schicksal und nicht Wahl“) und die Erkenntnis aus der eigenen Katamnesestudie, dass nur die Hälfte der Übergriffe überhaupt registriert war. Die Größenordnung – mindestens 1 % der männlichen Bevölkerung, allein in Deutschland etwa 300.000 Männer mit pädophiler Neigung – zeigt, dass dies kein Randphänomen ist und präventive Angebote notwendig sind. Beier würdigte die politischen Unterstützer und hob besonders die punktgenaue Anschlussfinanzierung 2008 durch Brigitte Zypries‘ Einsatz hervor.
Der Vortrag endete mit einer eindringlichen Warnung: Die Zunahme KI-generierter Missbrauchsdarstellungen. Das US National Center for Missing & Exploited Children verzeichnete einen Anstieg der Meldungen um 1.325 % – von 4.700 Fällen 2023 auf 67.000 im Jahr 2024. Beier forderte eine Perspektive, die wie bei Pandemien Verursacher, Übertragungswege und Betroffene gleichzeitig betrachtet: Verhaltensprävention, Verhältnisprävention und Traumafolgenprävention müssen zusammengedacht werden. Er plädierte für eine dauerhafte Finanzierung spezialisierter Zentren mit multimodalen Behandlungskonzepten und internationaler Vernetzung.
Dr. Anna Konrad gab einen lebendigen und zutiefst menschlichen Einblick in die therapeutische Praxis. Sie machte die Heterogenität der Zielgruppe anhand von fünf anonymisierten Fallbeispielen greifbar und zeigte dabei die ganze Bandbreite menschlicher Schicksale: vom 47-jährigen Mann mit exklusiver pädophiler Störung, der unter schweren Depressionen und suizidalen Krisen leidet und dessen Hauptproblem der enorme Leidensdruck durch Selbstabwertung und internalisiertes Stigma ist, über den 42-Jährigen, der in einer akuten Hochrisikosituation gegenüber seiner Stieftochter unmittelbare Hilfe braucht, bis zum 22-jährigen Studenten, der die Kontrolle über seinen Konsum von Missbrauchsmaterial verloren hat und sein Studium vernachlässigt.
Diese Beispiele machten deutlich: „Wir haben im Kalender stehen: ‚Heute kommt eine PIN.‘ Wir wissen nichts, und dann kommt irgendjemand und bringt einen ganz unterschiedlichen Hintergrund und ganz unterschiedliche Herausforderungen mit sich.“ Die Berliner Zahlen seit 2018 zeigen 730 klinische Erstgespräche, über 400 Therapieangebote und eine beachtliche Teilnahmequote von 36 % in laufender Behandlung.
Konrad betonte die zwei zentralen Säulen der Arbeit: Reduktion des Leidensdrucks auf der einen und Minimierung der Fremdgefährdung auf der anderen Seite. Dabei zeigte sie auf, dass ein Großteil der Patienten ein hohes Ausmaß an psychischer Belastung aufweist – soziale Isolation, Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung, komorbide Störungen. Die Therapie verfolgt je nach Patient unterschiedliche Ziele: Bei manchen steht die Bewältigung dieser psychischen Belastungen im Vordergrund, bei anderen das Risikomanagement, bei vielen beides.
Sie würdigte ausdrücklich den Mut der Patienten, sich Hilfe zu suchen, und dankte ihren Kolleginnen und Kollegen, die „unter nicht immer ganz einfachen Bedingungen – Stichwort Stückelverträge – diese herausfordernde Arbeit machen.“ Ihre Worte machten klar: Diese Arbeit erfordert nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch menschliche Größe und die Fähigkeit, jenseits gesellschaftlicher Tabus zu sehen, dass vor einem Menschen sitzen, die Hilfe brauchen und verdienen.
Würdigung der Betroffenen: Mut, Verantwortung und die Hoffnung auf ein lebenswertes Leben
Ein zentraler Moment der Veranstaltung war die ausdrückliche Würdigung jener Menschen, die den Schritt wagen, sich Hilfe zu suchen. Dr. Anna Konrad brachte es auf den Punkt:
„Es ist immer leichter, auf dem Sofa sitzen zu bleiben und Pralinen zu essen, und es ist viel, viel schwerer, dahin zu leuchten, wo es weh tut. Davor habe ich großen Respekt.“
Brigitte Zypries erinnerte an ihre Bundestagsrede von 2007, in der sie bereits „mit aller Hochachtung“ die Männer würdigte, „die sich dort melden und bereit sind, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen. Denn es ist keine einfache Entscheidung, zu solchen Neigungen zu stehen und zu sagen: Ich will etwas dagegen tun und mich behandeln lassen.“
Die Fallbeispiele aus der therapeutischen Praxis machten deutlich: Hinter jeder Anmeldung steht ein Mensch mit seiner individuellen Geschichte, seinen Sorgen und seinem Leidensdruck.
Die zentrale Botschaft bleibt: Die sexuelle Präferenzstruktur manifestiert sich während der Pubertät und bleibt danach stabil – sie ist, wie Prof. Dr. Dr. Klaus M. Beier es formulierte, „ein Schicksal und nicht Wahl“. Doch aus dieser Präferenz muss keine Störung werden – das heißt: Die Neigung wird erst dann zur behandlungsbedürftigen Störung, wenn entweder großer Leidensdruck entsteht oder ein erhebliches Risiko für Übergriffe besteht. Das Therapieziel ist entsprechend unterschiedlich: Bei manchen Menschen steht die Reduktion des enormen Leidensdrucks im Vordergrund, bei anderen die Minimierung von Risikofaktoren für Fremdgefährdung – oder beides.
Die hohe Therapieadhärenz zeigt: Menschen mit pädophiler Neigung fassen Vertrauen und übernehmen Verantwortung, wenn man ihnen mit Hilfe statt Verurteilung begegnet und Anonymität garantiert. Die beeindruckende Bereitschaft von 88 % der Patienten, trotz des enormen Erhebungsaufwands an der wissenschaftlichen Evaluation teilzunehmen, unterstreicht dies eindrücklich.
Erste Evaluationsergebnisse
Prof. Dr. Stephan Mühlig von der TU Chemnitz präsentierte erste vorläufige Ergebnisse der laufenden Evaluation des Modellvorhabens. Er betonte die methodischen Herausforderungen: Solange die Datenerhebung läuft, können aus wissenschaftlicher Sorgfalt keine finalen inhaltlichen Ergebnisse kommuniziert werden. Dennoch lieferte er beeindruckende Zahlen zum Projektumfang: 2.073 erfasste Interessenten, 1.296 aufgenommene Therapien, eine Abbrecherquote von 23 % und eine außergewöhnlich hohe Studienteilnahmebereitschaft von 88 % – trotz eines enormen Erhebungsaufwands von 43 Messinstrumenten mit insgesamt 2.276 Items pro Patient.
Der dabei entstehende Datensatz ist weltweit einmalig: 1.500 Patienten, 20.000 Variablen, 25 Millionen Einzeldatenwerte. Mühlig erläuterte, warum die Evaluation vor allem auf sekundäre Outcomes fokussiert: Da bei primären Outcomes wie Rückfallraten nur Selbstangaben möglich sind, die durch soziale Erwünschtheit und Strafbarkeit verzerrt sein können, konzentriert sich die Evaluation auf beeinflussbare Risikofaktoren wie Einstellungen, Empathie und Selbstkontrolle. Um ehrlichere Angaben zu erhalten, wurde zusätzlich eine vollanonyme Befragung mittels versiegelter Urnen eingeführt. Die Teilnehmer sind zu 95 % Männer, überwiegend zwischen 20 und 45 Jahren, und 75 % hatten bereits vor Projektbeginn Psychotherapie-Erfahrung.
Paneldiskussion: Perspektiven für die nächsten 20 Jahre
Die abschließende Paneldiskussion, moderiert von Maximilian von Heyden, versammelte unterschiedliche Perspektiven auf die Zukunft des Projekts. Einen besonderen Moment bildete die verlesene Stimme eines jungen Mannes, der vor sechs Jahren Hilfe in Anspruch genommen hatte. Aus Schutzgründen konnte er nicht persönlich teilnehmen – ein Hinweis darauf, dass das Thema trotz aller Fortschritte kontrovers bleibt und Betroffene gefährdet sein können.
Seine Botschaften waren eindringlich: Es brauche eine Entkopplung der Neigung vom Missbrauch – „Skepsis und Vorsicht sind völlig verständlich, aber dürfen nicht zum schnellen Urteil führen, ohne zuerst zuzuhören.“
An jüngere Betroffene richtete er den Appell: „Seid ehrlich zu euch selbst. Die meisten Probleme entstehen dadurch, dass man sich selbst belügt, manchmal auch über Jahre hinweg.“
Seine Zukunftsvision für die Gesellschaft: „Es gibt keine einfachen Lösungen […] aber auch wenn es verlockend wird, dürfen wir nicht aufgeben, an langfristigen Lösungen zu arbeiten. Dazu gehört auch, Menschen eine Chance zu geben, die man nicht versteht, die zum Teil schreckliche Dinge tun, trotzdem daran weiterzuarbeiten, dass langfristig weniger Schaden entsteht – in einer Gesellschaft, in der jeder die Möglichkeit bekommen soll, egal wann im Leben, ein guter Mensch zu werden.“
Prof. Sara Jahnke von der Universität Bergen betonte aus Sicht der Stigmaforschung die Notwendigkeit einer weiteren Professionalisierung und umfassender Evaluationsstudien, die in Behandlungsleitlinien münden sollten. Sie warnte vor der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung: „Gerade im Netz ranken sich viele Verschwörungstheorien um Pädophilie […] Ich sehe Pädophilie als Teil dieser allgemeinen Polarisierung.“ Zur Kommunikation betonte sie, dass Aufklärung wirke, wenn sie die Menschen hinter den Begriffen zeige und die Vielfalt der Betroffenen sichtbar mache. Moralische Überheblichkeit oder als euphemistisch empfundene Begriffe wie „Minor Attracted Person“ führten hingegen zu Reaktanz.
Hannes Gieseler machte deutlich, dass das Netzwerk noch lange nicht flächendeckend sei: „Wenn ich frage: ‚Hast du einen KTW-Standort in der Nähe?‘, heißt es: ‚Ja, ist drei Stunden weg‘ oder ‚Jahre Wartezeit‘.“ Es brauche mehr lokale Angebote, gut ausgebildete Therapeuten in den Regionen und niederschwellige Online-Angebote. Die erlebte Anonymität sei dabei zentral: „Es geht immer um die erlebte Anonymität […] Deshalb ist ein ganz wichtiger Aspekt die mögliche Anonymisierung – ich kann eventuell chatten, und das ist komplett anonymisiert.“ Technologie könne dabei helfen, auch jene Menschen zu erreichen, die noch nie therapeutischen Kontakt hatten.
Prof. Tillmann Krüger als stellvertretender Sprecher des Präventionsnetzwerks formulierte drei Zeitebenen: Heute sei er beeindruckt vom Erreichten, morgen hoffe er auf eine erfolgreiche Entfristung und gesetzliche Verstetigung, und langfristig müsse die Expertise in die Breite getragen werden: „Jeder Psychiater, Psychiaterin, Psychologe, Psychologin, Psychotherapeutin braucht eine Grundexpertise.“ Die Sexualmedizin müsse in Weiterbildungscurricula verankert werden – in Medizin, Psychologie und Sexualpädagogik.
Prof. Stephan Mühlig äußerte eine beunruhigende Beobachtung: Ein Experte für Darknet-Aktivitäten habe berichtet, dass bis zu 60 % aller illegalen Aktivitäten im Darknet mittlerweile der Austausch von Missbrauchsdarstellungen seien – „weit über allen Aktivitäten, die mit Drogenhandel, illegalen Waffen und solchen Dingen zu tun haben.“ Dies deute auf eine wachsende Prävalenz hin, die andere Dimensionen annehme. Forschungsperspektiven seien die bessere Erhellung dieses Dunkelfelds und eine größere randomisiert-kontrollierte Studie zur Wirksamkeit der Therapie.
Maximilian von Heyden reflektierte abschließend kritisch das Framing der Gesundheitskommunikation: „Mir tut es leid, dass wir alle, die hierherkommen, auch unter der Perspektive der potenziellen Täterschaft framen. Das ist bedauerlich, weil es ja nicht alle betrifft.“ Die zentrale Herausforderung bleibe: Wie kann man über das Thema so sprechen, dass sowohl Menschen mit hohem Leidensdruck ohne Fremdgefährdungsrisiko als auch Menschen in Hochrisikosituationen gleichermaßen erreicht werden? Wie gelingt es, die therapeutische Hilfe gesellschaftlich zu legitimieren, ohne den Kinderschutz aus dem Blick zu verlieren – aber auch ohne alle Hilfesuchenden pauschal als potenzielle Täter zu stigmatisieren?
Fazit und Ausblick
Die Veranstaltung machte deutlich: 20 Jahre „Kein Täter werden“ sind eine Erfolgsgeschichte wissenschaftlichen Muts, politischer Weitsicht und therapeutischer Professionalität. Vor allem aber sind sie eine Geschichte von über 20.000 Menschen, die den Mut gefunden haben, sich zu melden – und damit Verantwortung übernommen haben.
Das Projekt hat bewiesen, dass Menschen mit pädophiler Neigung erreichbar sind, wenn man ihnen mit Hilfe statt Verurteilung begegnet und Anonymität garantiert. Es hat gezeigt, dass die Neigung nicht zwangsläufig zur behandlungsbedürftigen Störung werden muss – dass also weder großer Leidensdruck noch Fremdgefährdung unvermeidbar sind, wenn rechtzeitig Unterstützung da ist. Und es hat demonstriert, dass ein lebenswertes Leben möglich ist – auch mit einer Neigung, die gesellschaftlich stigmatisiert ist.
Deutschland ist das erste und bisher einzige EU-Land, das die Richtlinie 2011/92/EU zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs vollständig umsetzt und verursacherbezogen präventiv im Dunkelfeld tätig wird. Mit über 50 Therapeutinnen und Therapeuten, 13 Standorten, internationalen Kooperationen und dem weltweit einzigartigen Evaluationsdatensatz ist das Netzwerk gut aufgestellt.
Die nächsten Jahre werden entscheidend sein: Die Verstetigung der Finanzierung über 2027 hinaus, die Bewältigung der durch KI und Digitalisierung wachsenden Herausforderungen und die internationale Verbreitung des Ansatzes stehen auf der Agenda. Wie Hermann Gröhe es formulierte: „Solange es Kinder gibt, die des Schutzes bedürfen, bedarf es auch eines rechtzeitigen Blicks in das Dunkelfeld.“
Und an alle, die mit einer pädophilen Neigung leben und sich fragen, ob es einen Weg gibt: Die wichtigste Botschaft dieser 20 Jahre lautet: Es gibt Hilfe. Es gibt Menschen, die verstehen. Und es gibt einen Weg, Verantwortung zu übernehmen und ein gutes Leben zu führen. Sie sind nicht allein.
Interviews
Hermann Gröhe
Bundesminister für Gesundheit a.D.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier
Gründer und Sprecher des Präventionsnetzwerks
Prof. Dr. Stephan Mühlig
Evaluator des Modellvorhaben nach § 65d SGB V
Jerome Braun
Geschäftsführer Deutsche Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel