10 Jahre Präventionsprojekt für Jugendliche: Erkenntnisse zur Versorgung von Jugendlichen mit sexueller Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema

25. Juli 2024

Seit einer Dekade widmet sich das Präventionsprojekt für Jugendliche (PPJ) am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité in Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH der Versorgung von Jugendlichen mit einer sexuellen Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema. Neben dem Aspekt der Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder fokussiert das Projekt auch auf die Reduzierung des Leidensdrucks der betroffenen Jugendlichen, unabhängig von einem potenziellen Übergriffsrisiko. Dieser Beitrag basiert auf einer Studie von Schlinzig et al. (2021) und beleuchtet die Haupterkenntnisse sowie deren Relevanz für psychosoziale Fachkräfte.

1. Frühzeitige Intervention: Notwendigkeit und Machbarkeit

Die Daten der Studie von Schlinzig et al. (2021) zeigen, dass eine sexuelle Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema bereits im Jugendalter festgestellt werden kann. Von 185 vollständig diagnostisch gesehenen Jugendlichen wiesen laut der Studie 67% eine exklusive oder nicht-exklusive sexuelle Ansprechbarkeit für das vor- und/oder frühpubertäre Körperschema auf.

Es ist wichtig zu betonen, dass gemäß aktueller Klassifikationssysteme (ICD-10/ICD-11, DSM-5) die Diagnose „Pädophilie“ erst ab einem Alter von 16 Jahren gestellt werden kann. Bei Jugendlichen spricht das PPJ daher von einer sog. sexuellen Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema, um der noch nicht abgeschlossenen psychosexuellen Entwicklung Rechnung zu tragen und Stigmatisierungsprozessen vorzubeugen.

Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer lag laut der Studie bei 15,4 Jahren, mit einer Spanne von 12 bis 19 Jahren. Diese Altersverteilung verdeutlicht, dass der Beginn der Pubertät ein kritisches Zeitfenster für die Manifestation sexueller Präferenzen darstellt. Die Tatsache, dass Jugendliche in diesem Alter für eine Auseinandersetzung mit ihrer sexuellen Ansprechbarkeit erreichbar sind, eröffnet Möglichkeiten für frühzeitige Interventionen, die sowohl präventiv im Hinblick auf sexualisierte Gewalt wirken als auch den Leidensdruck der Betroffenen adressieren können.

2. Leidensdruck und psychische Belastung

Ein wichtiger Aspekt, den die Studie von Schlinzig et al. (2021) hervorhebt, ist der erhebliche Leidensdruck, unter dem viele der betroffenen Jugendlichen stehen. Dieser Leidensdruck resultiert nicht nur aus der Angst vor möglichen Übergriffen, sondern auch aus:

  • Scham- und Schuldgefühlen bezüglich der eigenen sexuellen Ansprechbarkeit
  • Sorgen um die eigene Zukunft und Beziehungsfähigkeit
  • Angst vor Stigmatisierung und sozialer Isolation
  • Unsicherheit bezüglich der eigenen Identitätsentwicklung

Die Studie betont, dass diese psychische Belastung unabhängig von einem tatsächlichen Übergriffsrisiko besteht und eine eigenständige Behandlungsindikation darstellt.

3. Komplexität der Fälle: Hohe Komorbiditätsrate

Ein signifikanter Befund der Studie von Schlinzig et al. (2021) ist die hohe Rate an komorbiden psychiatrischen Erkrankungen. Bei 57% der untersuchten Jugendlichen lag bereits mindestens eine kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung vor. Häufig diagnostizierte Komorbiditäten umfassten:

  • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
  • (Hyperkinetische) Störungen des Sozialverhaltens
  • Störungen aus dem Autismus-Spektrum
  • Leichte bis mittelgradige Intelligenzminderungen

Diese Befunde unterstreichen die Komplexität der Fälle und verdeutlichen den Bedarf an interdisziplinären, ganzheitlichen Behandlungsansätzen. Sie implizieren zudem, dass Versorgungsmaßnahmen nicht nur auf die Prävention von Übergriffen abzielen sollten, sondern auch die allgemeine psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Jugendlichen in den Fokus nehmen müssen.

4. Bedeutung anonymer und wertfreier Beratung

Ein zentraler Aspekt des PPJ ist das Angebot einer anonymen, vertraulichen und wertfreien Beratung. Dieser Ansatz hat sich als grundlegend erwiesen, um Jugendlichen einen geschützten Raum zu bieten, in dem sie offen über ihre sexuelle Ansprechbarkeit und den damit verbundenen Leidensdruck sprechen können. Die Studie zeigt, dass dieses Setting es den Teilnehmern ermöglicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne Stigmatisierung oder rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen.

5. Systemorientierter Ansatz: Einbezug des sozialen Umfelds

Die Studie von Schlinzig et al. (2021) hebt die Bedeutung der Arbeit mit Bezugspersonen, insbesondere Eltern, hervor. Dieser systemorientierte Ansatz dient nicht nur der sozialen Kontrolle, sondern auch der Unterstützung und Entlastung des gesamten Familien- bzw. Jugendhilfesystems. Die Einbindung von Bezugspersonen erwies sich als wesentlich für:

  • Die Schaffung eines unterstützenden Umfelds für den Jugendlichen
  • Die Bewältigung von Belastungen und Ängsten innerhalb der Familie
  • Die Förderung einer langfristigen psychischen Stabilität des Jugendlichen
  • Die Reduktion von Stigmatisierung und sozialer Isolation

Praktische Implikationen für Fachkräfte

  1. Fachkräfte sollten einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der sowohl die Prävention von Übergriffen als auch die Reduzierung des Leidensdrucks und die Förderung der psychischen Gesundheit der Jugendlichen umfasst.
  2. Angesichts der hohen Komorbiditätsrate ist eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen unerlässlich. Dies umfasst nicht nur Psychologie/Psychotherapie und Sexualmedizin, sondern auch Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädagogik und Sozialarbeit.
  3. Die Schaffung anonymer und vertraulicher Beratungsangebote kann die Hemmschwelle für Jugendliche senken, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Fachkräfte sollten solche Angebote kennen, ggf. selbst entwickeln und in bestehende Versorgungskonzepte integrieren.
  4. Der Einbezug von Bezugspersonen in die Versorgung ist von großer Bedeutung. Fachkräfte sollten Konzepte zur Arbeit mit dem gesamten Familiensystem entwickeln und implementieren.
  5. Eine offene, wertfreie Haltung gegenüber dem Thema kann dazu beitragen, Barrieren abzubauen und Betroffenen den Zugang zu Hilfsangeboten zu erleichtern. Fachkräfte sollten an der Entstigmatisierung des Themas arbeiten, etwa durch Aufklärungsarbeit in Schulen und anderen Jugendeinrichtungen.
  6. Angesichts der Komplexität des Themas ist eine kontinuierliche Weiterbildung für Fachkräfte unerlässlich. Dies sollte nicht nur fachspezifisches Wissen umfassen, sondern auch die Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit ethischen Dilemmata und rechtlichen Rahmenbedingungen.

Fazit

Die Erkenntnisse aus zehn Jahren Präventionsprojekt für Jugendliche (PPJ), wie sie in der Studie von Schlinzig et al. (2021) dargelegt werden, eröffnen neue Perspektiven für die Versorgung von Jugendlichen mit sexueller Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema. Sie unterstreichen die Notwendigkeit frühzeitiger, interdisziplinärer und systemischer Ansätze, die sowohl präventiv wirken als auch den Leidensdruck der Betroffenen adressieren.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass eine effektive Versorgung bereits im Jugendalter ansetzen muss und dabei die komplexen psychosozialen Hintergründe der Betroffenen berücksichtigen muss. Eine Balance zwischen Prävention, Unterstützung der Betroffenen und Schutz potenzieller Opfer bleibt dabei von zentraler Bedeutung.

Die Erfahrungen des PPJ zeigen zudem, dass es möglich ist, Jugendliche mit einer sexuellen Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema zu erreichen und ihnen effektive Hilfe anzubieten, die über die reine Prävention von Übergriffen hinausgeht. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für eine umfassende Versorgung dieser vulnerablen Gruppe, die bisher in vielen Konzepten noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

Kontakt

E-Mail: ppj-internet@charite.de
Telefon:
030 – 450 529 529
Sprechzeiten:
Montag – Mittwoch 15-17 Uhr, Donnerstag – Freitag 11-13 Uhr

2024-07-25T18:16:05+02:00
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